Historische Spurensuche jenseits der Mythen
Die Entdeckung, Eroberung und Erschließung des Westens gehört zu den kollektiven Urerfahrungen der Amerikaner. Ein Gründungsmythos entstand, den die populäre Massenkultur aufgriff und weltweit vermarktete. Obwohl die so verbreiteten Stereotypen und Formeln mit der historischen Wirklichkeit zumeist nur wenig zu tun haben, prägen sie bis heute die Vorstellungen und Verhaltensmuster von Millionen von Amerikanern und Europäern. Sie vermitteln ein Geschichtsbild, das den Mythos der Westerschließung als exzeptionelle kulturgeschichtliche und staatsgründerische Leistung aufrecht erhält.Erst seit den 1960er Jahren kommt es in den USA zu einer „Revision“ der herkömmlichen Geschichtsforschung, die die glorifizierenden Klischees kritisch hinterfragt und durch realistische Darstellungen ersetzt.
Das vorliegende Buch macht es sich zur Aufgabe, die neuen Ergebnisse dieser Bemühungen einem deutschsprachigen Lesepublikum faktennah und jenseits der üblichen Mythisierungen zu vermitteln. Der erste Teil des Buches erörtert die Erschließung des pazifischen Nordwestens und seines Hinterlandes, während sich der zweite Teil der Geschichte Kaliforniens zuwendet. Der Bogen spannt sich von den alten Indianerkulturen an der Nordwestküste und der mexikanischen Kolonialzeit in Kalifornien über die frühen Seefahrer und Entdecker, Pelzhändler, Trapper, Goldgräber und Pioniere bis herauf zum Eisenbahnbau, der beginnenden Urbanisierung und Industrialisierung gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Der „Erfolgsgeschichte“ der Westexpansion wird dabei stets auch die „Gegengeschichte“ der Verlierer und Zukurz-Gekommenen, vor allem der Indianer und anderer ethnischer und sozialer Minderheiten gegenüber gestellt.
Abschließend thematisiert das Buch die ideologische Vereinnahmung der Westgeschichte durch die populäre Kultur und die Bemühungen heutiger Historiker, Schriftsteller und Filmemacher, die gängigen Klischees zu dekonstruieren. Die Verbindung von geschichtlichen und kulturellen Nahaufnahmen, reichem Bildmaterial und persönlichen Erfahrungen vor Ort möchten nicht nur Spezialisten ansprechen, sondern auch allgemein an den USA Interessierte. Genaue Beschreibungen historischer Erinnerungsorte sollen Westreisenden Anregungen geben, sich selbst auf historische Spurensuche abseits der touristischen Trampelpfade zu begeben.
Dem amerikanischen Nordwesten und Kalifornien ist der Band des Amerikakenners und Amerikanisten Arno Heller gewidmet, der Literatur- und Kulturwissenschaft an österreichischen Universitäten sowie deutschen und amerikanischen Hochschulen lehrte. Mehrere Forschungsaufenthalte haben dem Autor besonders profunde Einblicke in die Lebenswelt des amerikanischen Westens, seine Geschichte und Kultur ermöglicht. Wie bereits bei seinem ersten Band über den amerikanischen Südwesten präsentiert Heller auch in diesem Band ein Bild Amerikas, das jenseits von Mythos und Kommerz liegt.
Ausgangspunkt einer langen Reise vom Nordwesten Amerikas mit Washington und Oregon, sowie ihren benachbarten Staaten Montana, Idaho, Wyoming und Utah bis nach Kalifornien und den Randregionen Nevadas ist die koloniale Vergangenheit des amerikanischen Nordwestens und der bis heute mystifizierte Westdrang der Siedler, die Landnahme und der Aufbau erster staatlicher Strukturen. Kenntnisreich schildert Heller die Kulturen von Indianerstämmen, die vor der Ankunft der weißen Siedler an der Pazifikküste oder in den Weiten des amerikanischen Westens lebten. Das Aufeinanderprallen der kolonialen Kulturen Europas mit jenen der Ureinwohner beendete nach vielen Kämpfen die letzteren und führte zum Untergang der Indianer, während gleichzeitig sich der amerikanische Gründermythos mit seinem Freiheits- und Unabhängigkeitsstreben, seinen Idealen von Demokratie und Individualismus unaufhaltsam im Nordwesten Amerikas Bahn brach. Die Folge war die Besiedelung des über weite Strecken beinahe menschenleeren riesigen Raumes des Westens, das oft nur kurze Aufblühen von Städten im Zuge des Goldrausches, aber auch das Scheitern zahlreicher Menschen an den Herausforderungen von Weite und Größe des Landes. Heller schildert anschaulich die Geschichte bedeutender Regionen und Orte, die Kulturen von Ureinwohnern, historische Entwicklungen und Ereignisse sowie deren Folgen, immer jenseits von jenem Bild einer amerikanischen Westgeschichte, die bis heute die eigene Geschichte nicht ausreichend kritisch hinterfragt und den Mythos der Westerschließung als große kulturgeschichtliche und staatsgründende Leistung aufrechterhält. Hellers Einsichten, die mit einer Vielzahl erstaunlicher Details untermauert und anschaulich werden, sind hervorragende Grundlage für jeden Reisenden, der den amerikanischen Westen besucht oder bereisen möchte. Daher gibt der Autor auch wertvolle Hinweise zum Besuch besonders lohnender und geschichtsträchtiger Orte. Das Buch hebt sich wohltuend von vielen Amerikapublikationen ab und sollte Eingang in jede Bibliothek sowie jede Schule finden. Für jeden Reisenden in den Nordwesten Amerikas sowie nach Kalifornien bietet das Buch unübertroffene Informationen zu Geschichte, Regionen und Landschaft, zu Kultur und besuchenswerten Orten!
Herbert Pardatscher-Bestle, Buch- und Kunstverlag Innsbruck – Wien – Bozen